Auffahrunfall oder Massenkarambolage

by Paul Balzer on 10. April 2011

3 Comments

Aus aktuellem Anlass der Massenkarambolage nahe Rostock ein Artikel zur Fahrzeuglängsführung.

Da nun die Staatsanwaltschaft ermittelt, gilt es sehr viele Fragen zu klären. Eine davon wird sein, wie der Weg-Zeit- bzw. Geschwindigkeits-Zeit-Verlauf jedes einzelnen Fahrzeugs gewesen ist. Daraus lässt sich dann ableiten, ob ein Fahrzeugführer eventuell eine Straftat begangen hat, oder ob es ein nicht vermeidbarer Unfall gewesen ist. Einfache Berechnungen zeigen, dass die Grenze hauchdünn ist.

Szenario

Es fahren 5 Fahrzeuge mit einem bestimmten Abstand zueinander und mit einer bestimmten Geschwindigkeit in Kolonne auf der Autobahn. Zu einem Zeitpunkt gibt es einen Grund für das 1. Fahrzeug eine Vollbremsung zu beginnen. Daraufhin reagiert das dahinter fahrende Fahrzeug mit einer Verzögerung (Reaktionszeit) auf die Vollbremsung und beginnt ebenfalls den Abbremsvorgang. Ein normales Szenario, welches eine Standardsituation im alltäglichen Verkehr darstellt.

Fahrzeugverzögerung

Im Allgemeinen wird durch den Tritt auf das Bremspedal eine Bremskraft auf die Räder übertragen, welche das Fahrzeug mit einer negativen Beschleunigung verzögern lässt. Die StVZO schreibt im §41 (4) vor, dass ein Fahrzeug mit mindestens 5m/s² verzögern muss. Ohne Bremsassistent oder sonstige fahrzeugtechnischen Hilfsmittel kann von einer mittleren Vollverzögerung von 6…9m/s² ausgegangen werden.

Zur Simulation des Abbremsvorganges habe ich eine PT2-Übertragungsfunktion gewählt.

G(s)=\cfrac{\text{Verzogerung}}{\text{Bremsbetatigung}}=\cfrac{-6}{1+0.08\cdot s+0.02 \cdot s^2}

Diese ist schwingungsfähig und spiegelt so das reale Abbremsverhalten ungefähr wider. Die folgende Abbildung zeigt die Verzögerung, wenn bei t=1s eine Vollbremsung durchgeführt wird:

Beschleunigungs-Zeit-Verlauf bei Vollbremsung PT2

Als Verzögerung wurde –6m/s² gewählt. Diese kann in der Realität (z.B. mit Bremsassistent etc.) bis zu -10m/s² erreichen.

Modellbasierte Berechnung mit ScicosLab

Zur Berechnung eines Szenarios kann natürlich auch eine einfache Integration der Beschleunigung angewendet werden. Allerdings hat sich in den letzten Jahren die modellbasierte Simulation von physikalischen Zusammenhängen als praktikabler herausgestellt. In diesem Fall wird mit der frei verfügbaren Software ScicosLab 4.4b gerechnet.

Scicoslab-Modell

Links oben zu sehen ist das Event, welches den Bremsvorgang starten lässt. Die Reaktionszeit wurde mit einem Continuous Fix Delay Block realisiert. Daraufhin wird im Block “Fahrzeug X” die Verzögerung integriert und daraus die Geschwindigkeit bzw. durch nochmalige Integration der zurückgelegte Weg berechnet. [Download der Scicos Datei]

Szenario 1 – Best case

Annahmen
  • Ausgangsgeschwindigkeit für alle 5 Fahrzeuge ist 130km/h
  • Sicherheitsabstand beträgt 50m
  • Reaktionszeit ist jeweils 1 Sekunde

Geschwindigkeits-Zeit-Verlauf

Geschwindigkeits-Zeit-Verlauf

Das Fahrzeug, welches ganz vorn fährt, ist in schwarz dargestellt. Das Event, welches die Vollbremsung verursacht ist bei t=0s. Um eine Sekunde verzögert (Reaktionszeit), beginnt Fahrer 1 (schwarz) zu bremsen. Eine weitere Sekunde später Fahrer 2 (grün). Und so weiter.

Interessanter ist allerdings der Weg-Zeit-Verlauf, welcher maßgeblich darstellt, ob es zum Crash kommt oder nicht.

Weg-Zeit-Verlauf einer Kolonnenvollbremsung

Weg-Zeit-Verlauf

In diesem Fall ist der Crash aus geblieben. Durch den Sicherheitsabstand von jeweils 50m (1. Fahrzeug fährt 200m vor dem Letzten) konnten alle Beteiligten vor dem Zusammenprall stehen bleiben.

Szenario 2 – Worst case

Annahmen
  • Reaktionszeit 2 Sekunden
  • Ausgangsgeschwindigkeit 130km/h
  • Sicherheitsabstand jeweils 30m

Geschwindigkeit-Zeit-Verlauf

Geschwindigkeits-Zeit-Verlauf

Es ist deutlich die längere Reaktionszeit zu erkennen. Dramatisch wird es im Weg-Zeit-Verlauf.

Weg-Zeit-Verlauf einer Massenkarambolage

Weg-Zeit-Verlauf Massenkarambolage

Mit rot gekennzeichnet sind die Stellen, an denen die folgenden Fahrzeuge in das 1. Fahrzeug crashen würde. Es ist gut zu erkennen, dass die folgenden Fahrzeuge teilweise ungebremst (z.B. blau in schwarz) in die stehende Kolonne einfahren würden. Wie das aussieht, hat der ADAC mal mit einem vergleichsweise leichten LKW ausprobiert: Auffahrunfall eines 5.5t LKW mit 70km/h auf Stauende

Fazit

Die einfache Mathematik bzw. Physik hinter den Berechnungen ist pure Vereinfachung und natürlich nur zur kurzen Erläuterung der Sachverhalte. Man kann aber schon daran erkennen, dass zwischen Freude & Leid nur ein paar kleine Parameteränderungen liegen. Ob eine oder zwei Sekunden Reaktionszeit (Radio, Handy, Apfel, Kind, Aussicht, Sandsturm) oder ob 30 oder 50 Meter Sicherheitsabstand. Ich denke die Gutachter der DEKRA haben einen schweren Job hier zwischen Schuldigem und Opfer zu unterscheiden.

Wie zum Teufel soll man vorher wissen, dass man in eine Wand aus undurchsichtiger Luft fahren wird? Die Karambolage ist ja gerade deswegen passiert, weil die Leute gebremst haben. Wären einfach alle so weiter gefahren (was natürlich aus Angst nicht geht bei 0 Sicht), hätte niemand auffahren können. Erst das Reduzieren der Geschwindigkeit auf Grund der plötzlich schlechten Sicht hat einen Crash verursacht. Nur ein Hellseher hätte darauf vorher reagieren können. Stichwort: Prädiktive Fahrzeuglängsführung!

Alternativ würde Car-2-X Kommunikation genau diese Horrorcrashs verhindern. Aber das ist noch Zukunftsmusik – an welcher die Ingenieure arbeiten:

3 Comments

  1. Klingt nach einem Plädoyer für mehr Sicherheitsabstand.
    Ich denke fast, das in so einem Chaos irgendwann nicht mehr gefragt wird, wer Verursacher ist, sondern das einzig auf die Umstände geschoben wird.
    Die Toten bekommt man leider so oder so nicht wieder lebendig.

    Aber danke für die Erläuterung, die auch für einen Laien verständlich ist.

  2. Ich glaube, dass wenn man in so eine Situation kommt, so oder so verloren hat. Erst einmal bereitet einen wohl nix im täglichen Verkehr auf solch eine Extremsituation vor. Dass plötzlich die Sicht weg ist, habe ich so zumindest noch nie erlebt. Bei Nebel, Starkregen etc. entwickelt sich die schlechte Sicht ja irgendwie.

    Ich weiß als Fahrer in so einer Situation weder was vor mir passiert, noch was hinter mir los ist. Bei 10m Sicht und 100km/h sitze ich ja dem stehenden Vordermann hinten drauf, bevor meine Reaktionszeit vorbei ist. Eine Vollbremsung ist aber auch doof, da mir sonst mit aller Wahrscheinlichkeit jemand das Heck kalt verformt.

    Selbst im Nachgang mit reichlich Zeit zum überlegen wüsste ich nicht was ich machen würde, wenn ich in so eine Situation kommen würde. Wahrscheinlich noch nach rechts in Richtung Standstreifen ziehen und hoffen.

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