So einfach steht es in der ADAC Motorwelt Ausgabe 4/2010 (S.62). Es wird allerdings darauf hingewiesen, dass diese Meinung durchaus umstritten ist. Wie kann man sich das nun vorstellen? Bessere Reifen auf die hintere Achse? Ich habe doch einen an der Vorderachse angetriebenen PKW, was sollen die besseren Reifen denn hinten?
Dabei ist erst einmal zu unterscheiden, was wir wollen. Beschleunigen oder Abbremsen? Soll das Auto möglichst gut beschleunigt werden und hat dazu auch noch Vorderradantrieb, so sind die besseren Reifen auf die Vorderachse zu montieren. Die Überlegung des ADAC geht aber in eine andere Richtung.
Wichtig ist in erster Linie nicht, wie schnell ich meinen PKW beschleunigen kann, sondern wie spurstabil er in Gefahrensituationen bleibt. Dazu folgende Überlegungen:
Fahrdynamik und Spurstabilität bei Verzögerung
Konzentriert man die Masse des Fahrzeuges in einen Punkt (Schwerpunkt), so liegt dieser oberhalb der Radaufstandspunkte und im Bereich der vorderen Türen. Dies am Beispiel eines VW Polo also ca. 1/2m über dem Erdboden, je nach Beladungszustand.
Die Daten des abgebildeten VW Polo sind:
Dynamische Achslasten
Wird das Fahrzeug nun abgebremst, so erzeugt die wirkende Bremskraft im Zusammenhang mit der Fahrzeugmasse und der Schwerpunkthöhe ein Nickmoment, welches die Vorderräder belastet und die Hinterräder entlastet. Das heißt also, die hinteren Räder werden “ausgehoben”.
Die statischen Achslasten ergeben sich mit:
Die dynamischen Achslaständerungen in Abhängigkeit der Abbremsung a ergibt sich mit:
Diese dynamische Achslaständerung muss beim Bremsen der Vorderachse hinzugerechnet und der Hinterachse abgezogen werden. Somit ergibt sich folgender Zusammenhang:
Bei einer Abbremsung von 8m/s² reduziert sich die statische Achslast um den dynamischen Anteil und reduziert sich in diesem Beispiel beim VW Polo auf nur noch knapp 170kg. Das ergibt also ein Gewicht von rund 85kg pro Hinterrad, welches auf die Straße gepresst wird. Nicht mehr sehr viel. An der Vorderachse wird durch die dynamische Achslast im gleichen Moment 378kg pro Rad erreicht. Man sieht also, dass die Hinterräder mit wesentlich weniger Anpresskraft zu bremsen haben als die Vorderräder.
Seitenführungskräfte
Problematisch wird die Sache erst, wenn man sich vor Augen führt, dass die Seitenführungskraft eines Reifens stark von der Radlast abhängig ist. Beispielhaft soll folgendes Diagramm den Sachverhalt veranschaulichen (Daten aus Reimpell/Betzler: Fahrwerktechnik: Grundlagen, Vogel Buchverlag, 5. Auflage, 2005, Bild 2.44):
Blockierende Hinterräder
Beim Bremsvorgang werden die hinteren Räder entlastet, die Normalkraft sinkt, demnach sinkt auch die Seitenführungskraft. Wird die Hinterachse überbremst, d.h. blockieren die Räder (Bremsschlupf λ steigt auf 100%), so sinkt die Seitenführungskraft. Beispielhaft sei dies in nachfolgender Abbildung dargestellt (Verlauf 2 für Seitenführung, Verlauf 1 für Längsführung):
Montiert man jetzt die besseren Reifen auf der Vorderachse, liegt der Fahrzeugschwerpunkt ungünstig und kommt es zu einem Bremsvorgang, so ist es durchaus denkbar, dass die Vorderräder wesentlich mehr Seitenführungskräfte übertragen als die Hinterräder.
Jetzt wird es kritisch
Kritisch wird es dann, wenn Seitenkräfte angreifen und das Fahrzeug auch nur minimal von der exakten Geradeausfahrt ablenken. Denkbar wäre z.B. Seitenwind, schräge Fahrbahn, Lenkeingriffe, unterschiedliche Reibwerte zwischen linkem und rechtem Vorderrad, Bodenwellen, Kurvenfahrt, etc… Man sieht, es ist sehr wahrscheinlich, dass das Fahrzeug Querkräfte erfährt.
Das Problem ist, dass ein Fahrzeug mit blockierenden Hinterrädern instabil ist. Um dies zu veranschaulichen, muss man von oben auf das Fahrzeug schauen und ein Giermoment (Moment, welches um die Hochachse wirkt) berechnen, welches auf das Fahrzeug wirkt.
Bei blockierenden Vorderräder ist alles relativ unkritisch:
Die Seitenführungskräfte der Hinterräder erzeugen ein Giermoment, welches der Drehbewegung entgegen wirkt und das Auto wieder stabilisiert.
Bei blockierenden Hinterrädern ist es dann wirklich kritisch:
Denn die Seitenführungskräfte der Vorderräder erzeugen ein Giermoment, welches genau in die Richtung der Drehbewegung zeigt und somit das Fahrzeug zum Ausbrechen zwingt. Nur durch Gegenlenken kann ein Ausbrechen verhindert werden.
Fazit
Ich kann mich dem ADAC nur anschließen und die Meinung vertreten, dass die besseren Reifen auf die hintere Achse montiert werden sollten. Ein ausbrechendes Fahrzeug, insbesondere wenn man nicht damit rechnet, ist schwer zu beherrschen und sorgt fast immer für Ärger mit der Beifahrerin.
Wer es mal selbst ausprobieren möchte: Matchbox nehmen, Hinterreifen mit Tesa abkleben, geneigte Ebene runter fahren lassen, staunen. Dasselbe nochmal mit abgeklebten Vorderreifen: Kein Problem. Ähnliches wird sich sicherlich auch feststellen lassen, wenn man mal GoKart gefahren ist und dort zu heftig die Bremse betätigt hat. Nur durch heftiges Gegenlenken kann ein Schleudern verhindert werden. Besonders eindrucksvoll wird das auf einer Outdoor-Strecke im Regen.
One Comment
Auch, wenn die Winterreifenpflicht total überhastet eingeführt wurde und am Anfang keiner wusste, welche Reifen genau erlaubt sind, muss man sagen, dass die Aktion meiner Ansicht nach vernünftig war. Selbst in den Großstädten gab es in den letzten Wintern tagelang geschlossene Schneedecken auf den Strassen. Mit Sommerreifen war man da ein Verkehrsrisiko. Eines von ganz wenig guten Projekten unserer jetzigen Regierung.